Internationale Jugendpolitik

"Wir können es uns nicht erlauben, Angst zu haben"

Unser Partnerjugendring in Belarus, der Nationale Jugendrat RADA, musste seine Arbeit im Land einstellen. Marharyta Vorykhava, Vorsitzende von RADA, hat im Interview mit ijab.de die Situation der Zivilgesellschaft geschildert. Sie sagt: "Wir werden den gewaltlosen Widerstand gegen die Menschenrechtsverletzungen in Belarus fortsetzen."

ijab.de: Am 23. Juli ist RADA vom belarusischen Justizministerium für aufgelöst erklärt worden. Kannst du uns die rechtliche Situation beschreiben?

Marharyta Vorykhava: RADA wurde 1997 offiziell als Nationaler Jugendrat registriert und funktionierte auf dieser Rechtsgrundlage bis 2006, als das Justizministerium beschloss, die Initiative aufzulösen. Danach haben wir eine andere Organisation mit dem Namen "Ya Rada" registriert, die auf dem Gebiet von Belarus tätig ist. Doch am 23. Juli wurde dem Nationalen Jugendrat zusammen mit über 50 anderen Organisationen der legale Status entzogen. Wir sind also de facto aufgelöst. Wenn wir dennoch als Dachverband der belarusischen Jugendverbände weiterarbeiten, kann dies als illegale Tätigkeit angesehen werden - mit den entsprechenden rechtlichen Konsequenzen. Jede Veranstaltung, jedes Treffen kann als illegal und als Verstoß gegen das Gesetz gewertet werden. Das Regime hat eindeutig erklärt, dass "die Zivilgesellschaft aufhören wird zu existieren".

Mit welchem Risiko ist das für dich und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen verbunden?

Vorykhava: Da Belarus eine vollständige "Säuberung" von NGOs durchführt, ist es ein extrem hohes Risiko. Die Büros von Organisationen wurden mit fragwürdigen Begründungen durchsucht und und viele ihrer Vertreter*innen verhaftet. Wir müssen auf informelle Treffen von „Freunden“ ausweichen oder uns online treffen. Alles andere ist zu gefährlich.

Hast du persönlich Angst?

Vorykhava: Ja und nein. Alle, die etwas mit NGOs zu tun haben, haben Angst. Wir können alle jederzeit verhaftet werden. Inzwischen hat das absurde Züge angenommen. Kürzlich wurde die Vorsitzende eine Vereins verhaftet, der sich für den Erhalt der Festung von Brest engagiert. [Die Festung von Brest war eine wichtige Bastion des Widerstands der Roten Armee gegen die vorrückenden deutschen Einheiten im Sommer 1941. Die Festung ist nationale Gedenkstätte. Anm. d. ijab-Red.] Da Angst aber genau das ist, was das Regime anstrebt, können wir es uns nicht erlauben, Angst zu haben.

Als wir im November miteinander sprachen, warst du noch optimistisch, dass der Widerstand gegen Lukaschenko Erfolg haben würde. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Ist etwas von deinem Optimismus geblieben?

Vorykhava: Ja, die großen Straßenproteste haben aufgehört. Aber das bedeutet nicht, dass die Menschen aufgegeben und ihren Glauben verloren haben. Wir werden den gewaltlosen Widerstand gegen die Menschenrechtsverletzungen in Belarus fortsetzen, wir werden nicht vergessen, was vor einem Jahr geschehen ist, wir werden die demokratischen Grundsätze nicht verraten, wie es das Regime getan hat. Der Widerstand geht weiter in Form von internationalen Unterstützungskampagnen, Verhandlungen mit Partnern, dem Sammeln von Informationen über diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, der Veröffentlichung und Verbreitung von Informationen, wissenschaftlichen und menschenrechtsbezogenen Materialien, die den von der Repression Betroffenen die nötige Unterstützung bieten.

Sind eure Mitgliedsorganisationen von den Verhaftungen der letzten Wochen und Monate betroffen und wie ist die Situation der politischen Gefangenen im allgemeinen?

Vorykhava: Im Augenblick gibt es geschätzte 631 politische Gefangene und ihre Anzahl steigt schnell an. Auch einige Ehrenamtliche unserer Mitgliedsorganisationen sind verhaftet, im Gefängnis verprügelt und dann verurteilt worden. Wir versuchen sie so gut wie möglich zu unterstützen. Trotzdem halten wir daran fest, dass wir unser Land zurückbekommen werden.

Russland unterstützt Lukaschenko. Wie groß ist die Sorge, dass Putin die Gelegenheit nutzen wird, um Belarus zu schlucken?

Vorykhava: Ja, wir haben es mit einer Koalition der Regime zu tun. Putin hat Einfluss auf Lukaschenko und die Auflösung der NGOs ist möglicherweise eine der Vereinbarungen zwischen ihnen. Was die „vertiefte Integration“ von Belarus in die Russische Föderation angeht, so hoffe ich, dass sie nie stattfinden wird. Ich möchte weiterhin in einem unabhängigen Land leben. [Die „vertiefte Integration“ ist ein Vertrag aus dem Jahre 1999, der die Schaffung eines Unionsstaats zwischen Russland und Belarus vorsieht. Belarus hat jedoch nie Schritte unternommen, um diesen Vertrag umzusetzen. Anm. d. ijab-Red.] Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage als Folge der Sanktionen greift Lukaschenko jetzt nach den letzten Strohalmen. Wir können die Situation an der belarusisch-litauischen Grenze mit den Einwanderern aus dem Irak sehen. War das alles geplant? Ich weiß es nicht, ich beobachte nur die Folgen einiger Entscheidungen, die von bestimmten Leuten getroffen wurden.

Du hast die Sanktionen erwähnt. Sind die Sanktionen, die Europa verhängt hat, ausreichend?

Vorykhava: Die Sanktionen sind wichtig für uns. Sie tragen zur Zerstörung des politischen Systems bei, auch wenn das vielleicht ein langer Prozess ist. Europa beschleunigt diesen Prozess. Natürlich verschlimmern die Sanktionen die wirtschaftliche Situation und viele Menschen spüren das. Wir brauchen aber nicht nur Sanktionen, wir brauchen auch Unterstützung – zum Beispiel für diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben, die Rechtsbeistand benötigen oder die ins Ausland fliehen müssen. Auch in Deutschland gibt es Fonds, für die man Spenden kann und die die Gelder dann entsprechend einsetzen. Es gibt weiterhin Probleme mit der Visa-Vergabe, auch wenn besonders Litauen viel getan hat, um zu helfen. Da könnte Europa noch nachlegen.

Wie viele Menschen sind denn ins Ausland geflohen?

Vorykhava: Das ist schwer zu sagen, denn ironischerweise hat unser Nationaler Ausschuss für Statistik dieses Jahr keine Zahlen veröffentlicht. Ich würde die Zahl auf etwa 25.000 schätzen. Sie steigt jedoch ständig, denn heute gibt es in Belarus keinen Menschen mehr, der nicht von Repressionen betroffen wäre. Es ist nicht einmal die Zahl, die wichtig ist, wir sollten vielmehr darauf achten, wer uns verlässt: Tausende von IT-Spezialist*innen, Unternehmer*innen, Ärzt*innen, Student*innen, Künstler*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und viele mehr.

 

Dieses Interview erschien am 16.08.2021 zuerst auf ijab.de. Der Leiter unseres Referats für Internationale und Europäische Jugendpolitik, Jochen Rummenhöller, vertritt den Deutschen Bundesjugendring e. V. im Vorstand von IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V.

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